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Über die Erneuerung unserer Wurzeln: David Engels im Gespräch mit Victor Aubert



Ausnahmsweise ist es mein Privileg, nicht den Niedergang des Westens zu beklagen, sondern mich über den Widerstand gegen diese Entwicklung zu freuen. Ich beziehe mich dabei auf die französische Initiative “Academia Christiana”, deren Sommerkonferenz ich im August 2021 in einem Herrenhaus in der Normandie besuchen durfte.


Es war ein seltenes Vergnügen, ein Wochenende sowohl mit etablierten konservativen Denkern als auch mit aufgeweckten jungen Enthusiasten zu verbringen, welche die Antithese zu den “post-historischen” Männern und Frauen verkörpern, die unsere Städte bevölkern. Die bloße Wirkung dieser Menschen verdient es, hier festgehalten zu werden. Es waren Hunderte in guter Verfassung und in der Blüte ihres Lebens, die sich mit den Ursachen und Folgen des kulturellen Verfalls bestens auskannten. Sie zu erleben, wie sie in den Morgenstunden Kampfsport trainieren und der tridentinischen Messe beiwohnen und abends die einheimische Küche genießen, mit starker Stimme alte französische Lieder singen und frohen Mutes über die Zukunft sprechen, ist etwas, das ich nie vergessen werde – und ich wünsche mir, vielleicht vergeblich, dass sich dies in ganz Europa wiederholen könnte.


Obwohl die europäische Kulturkrise in Frankreich in mancher Hinsicht weiter fortgeschritten ist als anderswo, sind sowohl der Patriotismus als auch das Christentum hier tiefer verwurzelt als zum Beispiel in Deutschland, wo sowohl die Religion als auch ein gesundes Nationalbewusstsein derzeit einen spektakulären, vielleicht sogar fatalen Niedergang erleben. Dennoch ist zu hoffen, dass die Academia Christiana einen Präzedenzfall schafft, dem das katholische Spanien, Italien oder Osteuropa folgen können.


Zwar ist es unwahrscheinlich, dass ein solches Nischenvorhaben die breite Bevölkerung ansprechen wird, da der Verfall unserer Kultur und der Bruch mit der Tradition bereits zu weit fortgeschritten sind. Aber auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums ist die Zahl derer, die dem Christentum und seiner Tradition entschlossen und bewusst ablehnend gegenüberstehen, relativ gering, auch wenn dieses Lager über eine unvergleichliche und unverhältnismäßige Macht verfügt. Wenn es uns also gelingt, unsere Reihen ein wenig zu stärken; wenn wir zeigen können, dass der gesellschaftliche Zerfall die Folge des Linksliberalismus ist, wenn wir die Jugend durch Vernunft und menschliches Vorbild erziehen können, dann ist noch nicht alle Hoffnung verloren. Dann kann dank Institutionen wie der Academia Christiana, unbemerkt von den Massenmedien, ein Gegenbild zu Nietzsches „letztem Menschen“ entstehen. Im Folgenden finden Sie ein Interview mit Victor Aubert, dem Gründer und Direktor der Academia Christiana, das ich kürzlich geführt habe.


 

INTERVIEW


Erzählen Sie mir von den Ursprüngen des Programms der Academia Christiana. Wie hat es angefangen?


“Das Projekt begann im Jahr 2013; dem Jahr, in dem die Basisbewegung ‘Manif pour tous’ ins Leben gerufen wurde. Das Ziel der Academia Christiana, die von vier Studenten ins Leben gerufen wurde, war ebenso bescheiden wie ehrgeizig: die jungen Generationen sollten ermutigt werden, sich intellektuell weiterzubilden und sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Viele von uns hatten das Glück, entweder aktive Eltern zu haben, die uns als Vorbilder dienen konnten, oder Philosophie studiert zu haben, was uns die Notwendigkeit und Dringlichkeit des Dienstes am Nächsten bewusst gemacht hatte. Angesichts einer zerfallenden Welt waren wir überzeugt, dass wir nicht tatenlos zusehen konnten. Wir mussten aktiv werden.”


Was hat Sie in den vielen Jahren, in denen Sie mit jungen Erwachsenen aus ganz Frankreich arbeiten, am meisten überrascht? Gibt es Dinge, von denen Sie nicht erwartet hätten, sie zu erfahren?


“Wie Christopher Lasch sagte: ‘Entwurzelung entwurzelt alles, außer dem Bedürfnis nach Wurzeln’. Das ist wichtig und hat zu einer wachsenden Nachfrage nach Aus- und Weiterbildung geführt. Interessant ist, dass gerade junge Menschen aus dem Arbeitermilieu, die im kulturellen Vakuum eines dekadenten Westens aufgewachsen sind, oft am meisten Interesse zeigen – und am ernsthaftesten in ihrem Engagement sind. Im Gegensatz zu dem Bild, das wir oft von einer frivolen Jugend haben, streben viele junge Menschen immer noch nach Größe und Tiefe. Und auf dieser Suche müssen sie sich oft von denen abwenden, die sie nicht ernst nehmen.”


In den letzten Jahren hat das Interesse an Ihrem Programm stark zugenommen. Worauf führen Sie das zurück? Was sagt Ihnen das über die französische Gesellschaft und über junge Menschen im Allgemeinen?


“Meines Wissens sind wir die einzigen, die sich an junge Menschen wenden und versuchen, ihnen etwas Zugängliches, Attraktives und Substanzielles zu bieten – eine politische Bildung in einem christlichen Rahmen. Diejenigen, die bei unseren ersten Veranstaltungen anwesend waren, haben inzwischen ihre eigenen Familien, was ihnen eine gewisse Glaubwürdigkeit verleiht. Auch wenn das geistige Angebot im Internet – insbesondere durch Videos – erheblich bereichert wurde, kommt unser Publikum vor allem zu uns, um Gemeinschaft zu finden, Freundschaften zu schließen und ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln.”


Was ist Ihr beruflicher und akademischer Hintergrund? Was haben Sie vor Ihrer akademischen Laufbahn getan?


“Ich wurde in eine nicht praktizierende Familie hineingeboren und wuchs in einem Pariser Viertel mit hohem Migrantenanteil auf. Ich war also nicht dazu prädestiniert, die Academia Christiana zu gründen. Ich konvertierte im Alter von zehn Jahren zum Katholizismus, entfernte mich von ihm und kehrte nach einer etwas unruhigen Jugendzeit zur Kirche zurück. Als Zwanzigjähriger trat ich in das Priesterseminar der Petrusbruderschaft ein, das ich nach zwei Jahren verließ, um in Paris mein Philosophiestudium fortzusetzen. Heute, mit 32 Jahren, bin ich Vater von drei Kindern und unterrichte Französisch und Philosophie an einer Schule in der Normandie.”


Im gesamten Westen scheint es zwei auffällige und widersprüchliche Tendenzen zu geben: einen aggressiven Atheismus, der versucht, alle Spuren des religiösen Glaubens aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, und andererseits ein Wiederaufleben des religiösen Glaubens und des Interesses an der Tradition unter jungen Menschen. Wie erklären Sie sich das?


“Die Aggressivität der heutigen Ideologien lässt diese beinahe als eine Religion erscheinen. Daher würde ich sagen, dass der religiöse Sinn nicht völlig verschwunden ist, sondern sich eher gewandelt hat. An die Stelle des wahren Gottes sind neue Götzen getreten: Gesundheit, Umwelt, Konsum – und die Medien und Richter verkörpern den neuen Klerus.

‘Wo aber die Gefahr ist, wächst auch die rettende Kraft’, sagt Hölderlin. Die Begeisterung der 68er-Generation hat nicht mehr Kinder hervorgebracht. Die jüngeren Generationen bestehen zu einem großen Teil aus individualistischen Konsumenten, denen jede Form von politischem oder gemeinschaftlichem Engagement fremd ist. Gleichzeitig gibt es aber auch junge Menschen, die sich nach Wurzeln sehnen. Leider finden sich solche jungen Menschen in den Reihen militanter Islamisten und unter den ‘Woken’ – aber auch, Gott sei Dank, in der Academia Christiana.”


Einige Konservative sagen, dass wir alles Wertvolle verloren haben und dass es nichts mehr zu bewahren gibt. Stattdessen, sagen sie, brauchen wir eine kulturelle Erneuerung und Akte der Restauration. Was meinen Sie dazu? Wie lautet Ihre Diagnose unserer gegenwärtigen Lage?


“Die Academia Christiana hat keine offizielle Position zu diesem Thema, aber wir streben offensichtlich in Richtung kultureller Lösungen – kultureller Kampf, wie er in Rod Drehers ‘The Benedict Option’ diskutiert wird; die Weitergabe von altem Wissen an neue Generationen, die Suche nach Autonomie, Verwurzelung und Gemeinschaft. In diesem Sinne ist David Engels Buch ‘Que faire?’ (Was tun?)ein hervorragendes Beispiel für die Lösungen, die wir unseren Teilnehmern vorschlagen. Persönlich bin ich der Meinung, dass sich Europa in einem Dornröschenschlaf befindet und dass es an uns liegt, unsere Völker ‘aufzuwecken’. Alles muss wieder aufgebaut werden – und die Arbeit beginnt bei uns selbst.”


Wo sehen Sie Westeuropa und insbesondere Frankreich in fünf oder zehn Jahren? Wie sind die Aussichten für die westliche Zivilisation? Und was sollten wir tun?


“Ich gehöre zu denjenigen, die an den unvermeidlichen Zusammenbruch der kapitalistischen Zivilisation glauben. Aber die größte Unbekannte ist die Zeit. Wie Olivier Roy bin ich der Meinung, dass wir unseren Sinn für Grenzen finden müssen, wenn es eine Zukunft für Europa und für unsere Kinder geben soll. Das Wichtigste scheint mir zu sein, hic und nunc das zu finden, was uns wirklich zu Menschen macht. Dies ist im Übrigen eine wesentliche Forderung unserer Zivilisation im Angesicht angesichts der Barbarei – und der Weg nach vorne muss über einen erneuerten Sinn für Freundschaft, Gemeinschaft, Wurzeln und Glauben führen.”

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Das Gespräch führte Prof. Dr. David Engels. Weitere Informationen über die anstehende Sommeruniversität der Academia Christiana finden sich hier. Die englischsprachige Originalfassung dieses Beitrags erschien im Magazin “The European Conservative”.

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